KONZERT-ZYKLUS 2002-2003
6. Abend (6. März 2003)

Eduard Melkus
Aus der Programmeinführung von Eduard Melkus!

In diesem Konzert wurden mit A. Dürer und J. S. Bach zwei Künstler zusammen gestellt, die zwar nicht der gleichen Zeit entstammen, deren umfassender Geist aber einander ähnlich scheint. Zu dem Mangel an Zeitgleichheit wäre immerhin auch zu überlegen, inwieweit viele “gotische” Züge in Bachs Schaffen, die man im 19.Jh. feststellen wollte, vielleicht tatsächlich auf Jugendeindrücke aus seiner Umwelt in den kleinen, vom Mittelalter geprägten Städten zurückzuführen sind. Solche Überlegungen können nur auf das weite Thema des Künstlers in seiner Zeit hinweisen. Die Stellung der Kunst der Fuge im Gesamtwerk Bachs kann hier nur angedeutet werden: Nachdem er im “Wohltemperierten Klavier” (1722-44) die mögliche Vielfalt der Fugen in allen Tonarten und Charakteren dargestellt hat, waren die “Goldbergvariationen” (1742) die Ausein-andersetzung mit allen Möglichkeiten der Variation über e i n Thema. Das “Musikalische Opfer” (1747) zeigt eine Fülle von Variationen über das vom König gegebene Thema als in der Form von Fuge, Kanon, Triosonate. Nun, in der “Kunst der Fuge” (1747 - 50), entwickelt Bach seine kontrapunktische Kunst über ein eigenes Thema: auch hier ein groß angelegtes Variationenwerk, bei dem spätere Entwicklungen schon in den ersten Sätzen angedeutet werden.

Trotz größter kontrapunktischer Kunst besitzt jeder dieser Sätze seinen eigenen Charakter und darf als erlebtes Musikstück gelten. Wir müssen nur unsere Aufnahmebereitschaft schärfen und auf die subtilen Qualitäten einstellen: die Bedeutung eines Intervalles, der Aufbau eines Themas, das in seiner Umkehrung den Charakter eines Antipoden erhält. Engführungen sind nicht nur konstruktive Künste sondern bedeuten Spannung und geballte Energie - wie ein Sich-auf-die-Füße-treten im Gedränge und in Ungeduld. Modulationen in das lyrische F-Dur, das metallische a-moll, das düstere g-moll oder weiche B-Dur sind Abbild seelischer Zustände: All dies finden wir in jedem dieser Sätze. Sie bilden auch in ihrer Gruppierung größere Einheiten- ähnlich der Suiten- und Sonatenform: Die sehr verschiedenartig gestalteten vier Grundfugen sind vergleichbar der barocken Kirchensonate. Dann die Trias der Gegenfugen. Diesen zwei ersten Gruppen mit nur einem Thema folgt die Gruppe der Fugen mit zwei und drei Themen. Wie in der dramatischen Kunst erleben wir ihr Auftreten, ihre sehr verschiedene Individualität, ihr aufeinander Treffen. Ersetzen wir diese Themen durch Personen erleben wir ein dramatisches Widerspiel wie in einem Shakespeare-Werk!

Die zwei Spiegelfugen gewinnen in der Umkehrung völlig neuen Charakter. Die Kanons zeigen die sophistischen Möglichkeiten des Dialogs zweier Stimmen, einmal die eine, dann die andere mehr führend Die krönende Schlußfuge mit ihren vier Themen ist in ihrem Aufbau sehr klar und eindeutig: jedes Thema wird für sich allein eingeführt und in verschiedenen Umkehrungen und Engführungen beleuchtet - wir lernen es sozusagen von innen und außen kennen, dann folgt die Gegenüberstellung mit den schon vorhandenen Themen, dabei werden verschiedenste Möglichkeiten des Miteinander und Gegeneinander aufgezeigt. Dieser klare Aufbau erlaubt den Versuch, diesen Torso logisch zu ergänzen. Es wurden daher auch zahlreiche Versuche einer Vollendung unternommen. An der Stelle des Abbrechens schrieb Ph. E. Bach ins Autograph:

“Über dieser Fuge, wo der Name BACH im Contrasubject angebracht worden, ist der Verfasser gestorben”.
Die vorliegende Ergänzung unternimmt den Versuch, unter teilweiser Anwendung und Erweiterung von Kompositionstechniken aus vorangegangenen Fugen den großartigen Torso in einer neuen Steigerung zu beschließen und dem praktischen Musizieren zu gewinnen, wohl wissend um alle Einwendungen, die Pietät und Traditionsbewußtsein gegen ein solches Unternehmen vorbringen können. Diese Ergänzung ist bereits vor annähernd 40 Jahren entstanden, ich habe damals viele Monate mit Analysen und Studien verbracht und mich in den Stil eingelebt; ich weiß trotzdem, dass man sich dem Genius nur annähern, ihn aber nie erreichen kann, und habe aus diesem Grunde bisher auf eine Drucklegung verzichtet. Ausgespart wurden in unserer Aufführung die Bearbeitung der dreistimmigen Spiegelfuge für zwei Cembali - sie ist geistreich gemacht, aber doch nur als Alternativlösung gedacht - und die zweite Version des Kanons in Vergrößerung und Spiegelung des Themas aus gleichen Gründen.

Die Musikwissenschaft hat nachgewiesen, dass Bachs Werk, obwohl auf vier Systemen notiert, derart konzipiert ist, dass es zweihändig auf einem Tasteninstrument ausführbar ist. Der Höreindruck bestätigt aber immer wieder, das kein Tasteninstrument der Welt die Fülle und den Ideenreichtum der einzelnen Stimmen wirklich nachvollziehen kann. Ich habe daher seit unserer ersten Auseinandersetzung mit dem Werk im Jahr 1950 konsequent die Linie einer Aufteilung auf verschiedene Instrumente (= Individualitäten) verfolgt. Die Natürlichste bleibt hierbei das Streicherensemble, das im Barock die Basis für Ensemblemusik bildete. Die Hinzufügung des Cembalo als Continuo gibt dieser Version die klangliche Nähe zur Aufführungspraxis des 18. Jahrhunderts.

An dieser Stelle möchte ich auch unserem wunderbaren Lehrer Josef Mertin danken, der uns erstmals an dieses Werk herangeführt und diese Wunderwelt aufgetan hat!

Noch eine abschließende Bemerkung: Wir können dieses große Werk intellektuell erfassen, es analysieren und lernen, wie Bach seine Fugenkunst mit eben derselben Freiheit behandelt, wie Beethoven die Sonatenform. Dazu ist im nachfolgendenProgrammteil der Versuch einer kurzen Analyse den einzelnen Sätzen beigefügt. Das Wesentliche aber ist die geistig- menschliche Aussage, die uns in diesem Komplex anspricht, und letztlich unser Gefühl berühren will. Das Schönste ist, wenn es gelingt, bei allem Wissen diese Musik doch einfach auf sich wirken zu lassen und sich ihrem Eindruck ganz hinzugeben.

Eduard Melkus

ZURÜCK HOME